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Warum sich die E-Mail-Flut nicht mit klügerem Outlook-Management eindämmen lässt

Mein Workshop E-Mails effektiv schreiben müsste eigentlich heißen: Wie ich mit Emotionen klarkomme. Denn darüber spreche ich mit den Teilnehmer*innen von Jahr zu Jahr mehr. Und das hilft tatsächlich, die E-Mail-Flut einzudämmen.

„Wir ersticken in E-Mails, können Sie etwas dagegen tun?“ – das ist der häufigste Hilferuf meiner Kunden. So weit, so klar: Die Zeit, die Bürotätige vor Outlook verbringen, nimmt stetig zu. Und mit steigendem Mail-Aufkommen steigt der Stresspegel. Da will man gerne eine Lösung.

Interessant dabei ist, wie sich meine Kunden die Lösung vorstellen. Sie lautet: Mehr Automatisierung bitte! Man will, dass sich das ganze Zeug irgendwie von selbst erledigt und träumt von vollendeten Ablage- und Antwortsystemen. Besonders Outlook werden geradezu messianische Qualitäten zugetraut. „Wir wollen, dass Sie uns alle Tricks zeigen!“ Auch wenn meine Workshop-Beschreibungen nichts davon anbieten, presst man mir hartnäckig diese Wünsche ab. Aber das legt die Flut nicht trocken.

Ein europäischer Flugzeugbauer hat mit der Mail-Automatisierung seine Erfahrungen gemacht: Alle Outlook-Hacks genutzt, ausgeklügelte Ordnerstrukturen angelegt und allen E-Mails klare Regeln und Standardstrukturen verpasst – so dass sie sich lasen wie Formulare. Das Ergebnis: Die Mails wurden noch zahlreicher und noch wirkungsloser. Warum?

It’s the Emotions, Stupid!

E-Mails wuchern nicht, weil man Outlook nicht gründlich genug beherrscht. Die Ursachen dafür liegen allein in diesem obskuren, unberechenbaren Wischiwaschibereich der Emotionen. Hier meine Beobachtungen nach vielen hundert Workshops:

Je höher das Misstrauen, desto mehr cc:

Das cc und der „Allen antworten“-Button vervielfältigen die Mailkommunikation ins Unermessliche. Die Beteiligten tun dies, weil sie Angst haben und sich nach allen Seiten absichern wollen. So lässt sich im Ernstfall immer sagen: „Aber ich hab‘s Dir doch gemailt!“

Je mehr Zeit vor Outlook, desto mieser die Stimmung 

E-Mail-Arbeit zermürbt bereits als solche: Der Körper verharrt stundenlang vor dem Bildschirm fixiert, die Augen kämpfen mit mieser Auflösung, das Layout ist sperrig, und die Inhalte öde, ärgerlich, oder beides. Forschungen belegen: Vorm Bildschirm ermatten wir ein Drittel schneller als vorm guten alten Papierstapel. Nach einer Stunde Mailarbeit geht auch die beste Laune in den Keller.

Je negativer die Formulierung, desto negativer die Reaktion.

Ja, es macht einen Unterschied, ob ich schreibe: „Leider können wir noch nicht liefern, weil Sie vergessen haben, das Formular xx auszufüllen.“ Oder aber; „Sobald Sie uns noch Formular xx schicken, liefern wir.“ Wie viele E-Mails erreichen uns täglich, in denen ein unterkühlter, präventivbeleidigter oder schlicht unfreundlicher Ton mitschwingt?

Je größer die digitale Distanz, desto fröhlicher feuert der Feigling

Bio-Kontakte schwinden. Selbst Büronachbarn kommunizieren per Mail. So reduziert sich mein Gegenüber zum Avatar, in den ich alles Mögliche hineinprojiziere, gerne auch viel Schlechtes. Das Ergebnis ist – vor allem unter Anspannung – ein rauer Umgang, der leicht eskaliert. Was face-to-face noch einer gewissen Beißhemmung unterliegt, entfällt im Mailverkehr.

Treten diese Hauptverursacher in Kombination oder gar im Gesamtpaket auf, bricht die Mailflut aus. Derart dauergenervt greifen Mitarbeiter zur sanften Sabotage: Nochmal zurückmailen und blöd nachfragen, um Zeit zu gewinnen. Gar nicht antworten und den anderen auf heißen Kohlen sitzen lassen. Nochmal bei allen nachfragen, ob das wirklich so gemeint war. Lange Ketten-Mails in andere Abteilungen schicken, damit die auch Bescheid wissen, was xy vorhat … es gibt viele subtile Möglichkeiten, per Mail den Laden zu lahmzulegen.

Gestandene Ingenieure lernen, emotional bewusst zu formulieren. 

Früher, vor der E-Mail, hatte der Akt des Schreibens einen entscheidenden Vorteil: Ich konnte mir vorher gründlich überlegen, wie ich mit meinem Gegenüber umgehen will. Schreiben förderte einst die Affektkontrolle: Ich konnte meine instinktive Reaktion („Ich mach ihn zur Sau!“) überdenken, eine strategisch klügere Lösung finden und dann erst schreiben. Das hat der SENDEN-Button verändert, weil er zum unkontrollierten Klicken verleitet.

Was ist aus dem europäischen Flugzeugbauer geworden, nachdem dem Techno-Lösung gescheitert war? Wir haben in Vorträgen und Workshops über die wahren Ursachen der Mailflut aufgeklärt. Statt Regeln haben wir Werte vorgeschlagen. Regelmäßige Diskussionen festigen diese Wertebasis. Auf drei Grundwerte haben sich die Mitarbeiter verständigt:

Selbstbeherrschung

Ich schätze die Folgen meines Handelns ab. Wann immer ich bezweifle, ob das eine gute Idee ist, tue ich es lieber nicht: Lieber nicht in cc, lieber nicht allen antworten, lieber nicht sofort zurückballern.

Sorgfalt

… bedeutet, es dem Leser so leicht wie möglich machen. Das erfordert Schreibhandwerk. Wie verpacke ich komplexe Inhalte so, dass sie trotzdem innerhalb von Sekunden verstanden werden? Wie präsentiere ich meine Anhänge? Kurz: Wie verschwende ich nicht die Zeit und mentalen Ressourcen der anderen?

Großmut

E-Mails sind nicht perfekt. Menschen sind nicht perfekt. Eine E-Mail allein sollte nie Grund sein, jemandem etwas Böses zu unterstellen. Im Gegenteil: Weil Mailkommunikation per se schlechte Laune macht, brauchen wir dringend Wohlwollen, Freundlichkeit – gern auch Lob und Dank und Wertschätzung. Fehlt dies, kühlen wir aus. „Nicht gemeckert ist genug gelobt“ – das reicht als angewandte Philosophie nicht mehr. Ich ermuntere meine Teilnehmer eindringlich, beim Verfassen von E-Mails darauf zu achten, was es zu danken, zu loben und zu wertschätzen gibt. Das fällt vielen schwer, in einem Land, wo eine Freundlichkeit zu viel schon als Schleimerei gilt oder gar als Unterwerfungsgeste. Aber es zahlt sich aus: Ein Satz, der gut tut, wirkt lange nach, mindert den Stress und macht wieder Lust auf Leistung. Wir brauchen diesen stetigen Zufluss an mentaler und psychischer Energie, um belastbar zu bleiben.

E-Mails sind ein wunderbares Übungsfeld für diese Art von Herzensbildung.

Und die Moral von der Geschicht:

Als Workshop-Anbieter muss ich diese Herzensbildung in einem trojanischen Pferd verkaufen. In Titel und Beschreibung müssen immer noch Worte wie „effektiv“ oder „Management“ vorkommen, um alte Illusionen bedienen. Trotzdem ist die Herzensbildung das Element, das bei den Seminarteilnehmern am stärksten nachwirkt.

„Der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich mitten im Stress“, sagt mein buddhistischer Mentor Daisaku Ikeda.

Man kann beim Mailschreiben Stress erleben. Oder aber üben, wie man sich über ihn erhebt, sein Herz verwandelt und das des anderen auch. Ich garantiere: Das hat gute Folgen, in der digitalen wie in der Kohlenstoffwelt.